Möchtest du Recht haben – oder glücklich sein?
Warum es sich lohnt, den inneren Frieden wichtiger zu nehmen als das letzte Wort
Es gibt eine Überzeugung in fast allen von uns: Ich muss auf Teufel komm raus Recht haben, Recht bekommen oder Recht behalten.
Dieses tief sitzende und oft unbewusste Bedürfnis scheint unglaublich wichtig für uns zu sein. In manchen Situationen kann es fast unerträglich sein, dem anderen Recht zu geben und von unserem Standpunkt abzuweichen oder ihn gar aufzugeben. Obwohl wir uns – wenn man mal ehrlich ist – nach dem “Sieg”, also wenn wir uns mit unserer Meinung/Position/Haltung behaupten konnten, selten richtig gut fühlen. Zu oft hinterlässt das Gefühl, sich durchgesetzt zu haben, einen schalen Geschmack im Mund. Wir spüren, dass da in uns etwas zu verbissen die eigene Haltung vertreten hat. Wir schämen uns fast, so vehement oder sogar kämpferisch vorgegangen zu sein und den anderen oder die andere Seite eventuell schlecht oder klein gemacht zu haben. War das wirklich notwendig? Und ist mein “Sieg” wirklich ganz verdient?
Worin wollen wir Recht haben?
Es kann um einen Rechtsstreit vor Gericht gehen oder darum, ob man die Zahnputztube zuschraubt oder nicht. Es gibt fast unendlich viele Beispiele – von scheinbar unbedeutend bis hin zu gewichtig – in welchen Situationen wir uns ermächtigt fühlen, unsere Meinung durchzusetzen oder von unserer Art, etwas zu tun, nicht abweichen wollen:
Typische Bereiche, in denen Menschen recht haben wollen:
Meinungen und Weltanschauungen – z. B. politische, religiöse, moralische Überzeugungen
Beziehungen und Konflikte – z. B. wer „im Recht“ ist bei Streitigkeiten
Wissen und Fakten – z. B. historisches Wissen, Sachfragen, Alltagswissen
Selbstbild und Identität – z. B. Vorstellungen über sich selbst und die eigene Rolle
Lebensentscheidungen – z. B. Berufswahl, Erziehungsstil, Lebensstil
Erinnerungen – z. B. wer was gesagt oder getan hat
Wahrnehmung von Gerechtigkeit – z. B. faire Behandlung, Schuld und Verantwortung
Lösungen und Vorgehensweisen – z. B. wie man ein Problem am besten löst
warum fühlt es sich so essentiell an, Recht haben zu wollen?
Zuerst die gute Nachricht: Es gibt evolutionär- und psychologisch gesehen gute Gründe für das Phänomen, unbedingt Recht haben zu wollen. Ich möchte hier 4 Aspekte kurz beleuchten:
1. Recht haben = Kontrolle = Sicherheit
In Diskussionen (oder inneren Monologen) suchen wir häufig nicht einfach nach „Wahrheit“, sondern nach Sicherheit. Wenn ich recht habe, fühlt es sich an, als sei die Welt ein Stück geordneter. Es bestätigt mir: „Ich habe die Situation verstanden, ich bin kompetent.“
Das limbische System liebt Vorhersehbarkeit – Recht zu haben gibt uns das Gefühl, Kontrolle zu haben in oft chaotischen Situationen.
2. Recht haben = Identität schützen
Wenn ich eine Überzeugung vertrete, ist sie oft Teil meines Selbstbilds. Widerspruch kann sich dann wie ein Angriff anfühlen – nicht nur auf die Idee, sondern auf mich selbst.
Wenn ich z. B. denke: „Ich bin jemand, der die Dinge durchdenkt und fundierte Entscheidungen trifft,“ – dann fühlt es sich bedrohlich an, wenn jemand mir einen Denkfehler aufzeigt. Recht zu behalten heißt also auch: meine Identität bleibt intakt.
3. Ego: Der stille Dirigent
Das Ego will sich als richtig erleben – weil „falsch liegen“ für viele gleichbedeutend ist mit „nicht gut genug sein“.
Dahinter liegt oft Angst: vor Ablehnung, vor Kontrollverlust, davor, klein oder schwach zu wirken. Recht zu behalten ist dann eine Art Selbstschutzmechanismus.
4. Soziale Dynamiken: Wer verliert, verliert Ansehen
In manchen Konstellationen – z. B. in Paarbeziehungen oder im Job – wird das Eingestehen eines Fehlers emotional (oder sogar real) bestraft.
Wenn wir gelernt haben, dass Unrecht haben bedeutet, die Kontrolle oder die Macht zu verlieren, dann wird das Festhalten am Rechthaben zur Überlebensstrategie.
Wann lohnt sich das Festhalten – und wann nicht?
Natürlich ist es nicht falsch, eine Position zu verteidigen. Es ist ganz natürlich und gesund, sich zu positionieren und diese Position auch halten und begründen zu wollen. Doch oft ist es nicht unser “erwachsener”, reflektierter Anteil, der aus uns spricht, wenn wir jemanden richtigstellen wollen oder auf unser Recht beharren, sondern unser Ego – das kindlich gekränkt, rechthaberisch, kleinlich und unflexibel agiert. Wer auf seinem Recht beharrt, macht sich auch oft steif und hart. Flexibilität, Humor, Leichtigkeit und Großzügigkeit gehen verloren.
Die entscheidenden Fragen, um festzustellen, ob es sich lohnt, am Rechthaben festzuhalten, sollten lauten:
Dient es meinem Frieden und der Beziehung – oder nur meinem egozentrierten Selbstbild?
Dient es meinem momentanen impulsiven Bedürfnis, zu siegen und mein Gesicht zu wahren oder dient es meinem Wunsch nach stabiler und langfristiger Zufriedenheit?
Man könnte auch fragen, dient es mir wirklich, wenn ich jetzt darauf bestehe, Recht zu haben? Oder arbeite ich langfristig gegen mich?
Die Besserwisser bekommen das letzte Wort. Die Weisen behalten ihren Frieden.
Recht haben oder in Verbindung bleiben?
Was gewinne ich, wenn ich Recht behalte?
Ich gewinne möglicherweise ein Gefühl von Integrität – das Gefühl, fair und korrekt gehandelt zu haben. Beim Rechthaben geht es ja auch um ein Gefühl von Gerechtigkeit. Ich möchte mir und der anderen Seite beweisen, dass ich weiß, was wahr und gerecht ist. Leider vergisst man oft, dass Wahrheit relativ ist. Dass jede Meinung eine Vorgeschichte hat. Dass jede Haltung geprägt ist von Erfahrungen, Erziehung, Traumata und einem bestimmten Weltbild. Dass die Art, über etwas zu denken oder etwas zu tun, über Jahre und Jahrzehnte zur Gewohnheit – nicht selten zum Teil der Identität – geworden ist. Wie kann ich mir da sicher sein, dass ich objektiv Recht habe bzw. dass die andere Seite objektiv falsch liegt? Es geht im Leben allermeistens eben nicht um Sachverhalte, die man objektiv nachweisen und belegen kann, sondern um die unendlich vielen Grauwerte von subjektivem Erleben.
Wie oder wer wärst du, wenn du aufgewachsen wärst wie dein Gegenüber, mit seinen oder ihren Prägungen, mit seinen oder ihren Erfahrungen? Du würdest genauso denken, handeln, fühlen – und eine bestimmte Meinung bilden. Du könntest nicht anders. Genauso wie auch du nicht anders kannst, als etwas als richtig oder falsch, als gerecht oder ungerecht zu empfinden.
Und so unterschiedlich die Positionen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen – eines ist beiden Seiten gemeinsam: Niemand will verletzt werden oder etwas verlieren. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir so von unserer eigenen Seite und unserer Wahrheit eingenommen sind.
Deine Wahrheit ist nicht DIE Wahrheit, sondern lediglich die logische Schlußfolgerung einer langen individuellen Vorgeschichte.
Was verliere ich, wenn ich Recht behalte?
Ich verliere möglicherweise ein Gefühl von Nähe, Verbindung, Leichtigkeit, innerer Ruhe und Frieden – und die Chance, mein Gegenüber wirklich zu verstehen. Indem ich glaube, beweisen zu müssen, dass ich recht habe, verpasse ich die Möglichkeit, eine neue Sichtweise kennenzulernen und von jemand anderem zu lernen. Ich bleibe sozusagen spießig auf meiner Seite des Gartens, die mir vertraut ist, und beschwere mich darüber, was mein Nachbar in seinem Garten tut.
Wenn ich mich überwinden könnte, hinüberzugehen in den Garten meines Nachbarn – oder ihn zu mir einzuladen –, würde sich eine Tür öffnen, die man Persönlichkeitsentwicklung nennen könnte. Ich wachse über mich hinaus und strecke mich in ungewohnte Gefilde. Das ist eine große Bereicherung. Aber jede Veränderung und jedes Wachstum bringt auch kleine oder größere Wachstumsschmerzen mit sich. Die gilt es in Kauf zu nehmen.
Nicht Recht haben zu müssen heißt: Großzügig sein
Ich denke, großzügig zu sein ist eines der wichtigsten Zeugnisse für Reife in einem Menschenleben. Denn Großzügigkeit ist eine bewusste Tat des Loslassens. Ich gebe etwas „von mir“ auf, um etwas Positivem zu dienen. Ich gebe Zeit, Energie, Geld, meine Aufmerksamkeit – für etwas oder jemanden (dieser Jemand könnte auch ich selbst sein) – und „verliere“ gleichzeitig etwas bzw. entscheide mich bewusst nicht nur für etwas, sondern ebenso bewusst gegen etwas, z. B. das Gefühl, Recht behalten zu müssen.
Normalerweise versuchen wir Menschen, möglichst wenig zu verlieren – also ein gutes Geschäft zu machen, bei allem, was wir im Leben so tun. Wir können fast nicht anders. Wir denken zuerst an uns selbst und an „unseren Kontostand“. Doch bei echter Großzügigkeit, also einer Großzügigkeit, die nicht auf einen Deal mit der anderen Seite abzielt (ich gebe etwas, um etwas zurückzubekommen: ein Dankeschön, Geld, Geschäftsvorteile, Freundschaft, Liebe …), begnügen wir uns im Stillen mit dem Geschenk an uns, etwas Gutes getan zu haben – einfach, weil es uns möglich war. Natürlich fühlt es sich gut an, etwas Gutes oder das Richtige zu tun, aber es darf auch ein wenig weh tun, zu geben. Wenn man zum Beispiel etwas spendet oder einem Bettler Geld gibt, darf es ruhig ein bisschen schmerzen – dann weiß man, dass es die richtige Menge war. Und wenn man jemandem sein Recht lässt, auch wenn man nicht überzeugt ist bzw. mal nicht auf seinem Recht beharrt, tut das ebenfalls weh – zumindest für den Moment. Und diesen „Schmerz“ muss ich am besten mit mir alleine aushalten. Nur dann kann ich wachsen und erwachsen werden. Wenn ich dafür Lob oder Anerkennung brauche, ist es kein echter Wachstumssprung.
Es ist also notwendig und deswegen wünschenswert, dass es erst etwas weh tun, von seiner Meinung abzuweichen oder dem anderen sein Recht zu lassen.
“Give the world the best you have, the best will come back to you “
Swami Dayananda
Das Glück, nicht seinen Impulsen folgen zu müssen
Wie gelingt es, in herausfordernden Momenten bei sich zu bleiben? Gerade dann, wenn Emotionen hochkochen, ist es am schwierigsten – und zugleich am kraftvollsten –, die eigene Mitte nicht zu verlieren. In solchen Situationen liegt ein Schlüssel zu echter innerer Freiheit: Du darfst entscheiden, ob du reagieren oder bei dir bleiben willst. Der Moment, in dem du erkennst, dass du nicht reagieren musst, ist der Moment echter Freiheit. Du bleibst bei dir:
bei deinem inneren Frieden
in Verbindung mit deinen Mitmenschen
offen für Entwicklung
Und bitte warte nicht darauf, dass die andere Seite dir sofort folgt oder sich sogar bei dir bedankt. Sei im Stillen zufrieden und dankbar für deinen liebevollen und vernünftigen Umgang mit dir selbst und anderen Menschen.
Es geht darum, den Wert des eigenen inneren Friedens so hoch zu schätzen – indem wir uns tief im Inneren mit ihm verbinden –, dass diese Priorität in uns durch nichts „da draußen“ erschüttert werden kann. Und falls sie kurz erschüttert wird, berappeln wir uns und kommen zu uns zurück – zu dem, was wirklich zählt.
Denn am Ende geht es nicht darum, wer den besseren Standpunkt hatte, sondern wer in der Lage war, bei sich zu bleiben – klar, offen und bereit, dem Leben zu begegnen, wie es ist. Ohne es kontrollieren zu müssen und ohne sich in eine Abhängigkeit zu begeben – zum Beispiel das eigene Glück davon abhängig zu machen, ob die andere Seite einem Recht gibt oder nicht.
Wir müssen nicht alles kommentieren. Wir müssen nicht alles richtigstellen. Wir müssen nicht immer verstanden werden. Manchmal ist es besser, durchzuatmen, abzuwägen und loszulassen.
Wenn du das nächste Mal spürst, wie dein Ego kämpfen will, frag dich: Möchte ich Recht haben – oder möchte ich glücklich sein?
Wenn du eine Frage hast oder Interesse an einem 1:1 Coaching hast, kannst du mir gerne schreiben oder ein kostenfreies Erstgespräch vereinbaren. Jeden Donnerstag um 17:30-19:00 Uhr gebe ich ausserdem den Gruppencoaching-Kurs: Werkzeuge zur Selbsterforschung. Jede Woche leite ich ein neues “Werkzeug” an, um verschiedene Aspekte des Lebens zu beleuchten und der persönlichen Weiterentwicklung eine Richtung zu geben. Der Kurs ist offen und fortlaufend. Du kannst jederzeit einsteigen, da sich die Gruppe Woche für Woche potentiell neu zusammensetzt. Wenn sich das interessant anhört, findest du hier mehr Informationen.
Alles Liebe
Lena